Systeme im Großhandel

Prozesse und Systeme im Großhandel – Multitalente der ERP-Landschaften

Autoren:
Marie Greif, MA & Sebastian Wiemer, MSc (SIS Consulting GmbH)

Anders als Einzelhändler, welche ihr Warensortiment an Endkunden verkaufen, richten sich Großhändler an gewerbliche Kunden. Diese stellen dann wiederum die Waren des Großhandels den Endkunden zur Verfügung oder verwerten die Produkte für die Endkunden gleich weiter (z.B. beim Einbau eines Ersatzteils am Auto durch den Kfz-Mechaniker). Einige Großhändler stellen einen Teil der Handelswaren darüber hinaus in eigener Produktion her, sei es um strategisch wichtige Produkte selbst zu fertigen und dadurch Kundenbindungen und Margen zu erhöhen oder um individuellen Kundenwünschen mit einem Höchstmaß
an Flexibilität entsprechen zu können. Was beide Typen der Handelskultur, Einzelhändler und Großhändler, gemeinsam haben ist, dass sie die Waren der Hersteller zu einem Sortiment zusammenstellen und den jeweiligen Kundengruppen zugänglich machen. Der Großhandel ist damit Bindeglied zwischen Produzenten, verarbeitender Industrie und Einzelhandel und muss Flexibilität und Vielseitigkeit vorweisen, um den unterschiedlichen Anforderungen der Interessengruppen gerecht zu werden.

Als weitere Charakteristiken und Herausforderungen des Großhandels sind u.a. zu nennen:
  • Das Bündeln von Produktsortimenten unterschiedlicher Hersteller durch das Produktmanagement: Hierbei gilt es die Produkte der Lieferanten in Bezug auf Qualität, Verfügbarkeit, Preiskonditionen etc. vergleichbar zu machen und daraufhin zukünftige Bestellempfehlungen an den Einkauf abzugeben.
  • Optimierung und Planung des Einkaufs: Die Bestellung ist im Großhandel bloß die Spitze des Eisbergs der Einkaufstätigkeit. Ihr gehen zumeist eine umfangreiche Planung sowie vorgelagerte Prozesse voraus. So vertreiben viele Großhändler auch saisonale Waren, bei denen ein ganzjährig konstanter Bestand unnötig viel Lagerplatz belegen würde. Andererseits sind Bestell-Boni versehen, was ein Abwägen zwischen Lagerkosten und Preisnachlass erfordert.
  • Eine intelligente, leistungsfähige Wareneingangslogistik von Warenannahme bis Einlagerung: Um die Vielzahl der täglichen Lieferungen vernünftig sortieren, gruppieren und weiterverarbeiten zu können, bedarf es einer ausgeklügelten und disziplinierten Arbeitsweise. So können ankommende Artikel zur normalen Einlagerung weitergeleitet werden, einer Reklamationsrücklieferung entstammen oder sie werden mit weiteren, bereits lagernden, Produkten zu einem Set verbunden und gleich weiter an den Kunden ausgeliefert. Außerdem werden eine Vielzahl von weiteren Folgeprozessen und Prozesslogiken angestoßen, wie zum Beispiel das Planen und Timen der Einlagerung. Sie soll den Warenausgang nicht stören, denn sonst könnte die minutiöse Zeitplanung aus den Fugen geraten – der GAU eines jeden Logistikers.
  • Ein kompetenter Vertrieb über verschiedene Kanäle, die Fachkenntnisse und flexible Lösungsansätze erfordern. Denn unabhängig davon, ob eine Bestellung per Webshop oder als handgeschriebener Brief eingeht, hat der Kundenwunsch oberste Priorität.
  • Ein vielseitiges Marketing, um die immer vielfältigeren Vertriebswege optimal zu nutzen sowie ein vermehrtes Anbieten von Produktschulungen für Kunden und Mitarbeiter. Hierzu gehört außerdem ein umfangreiches CRM, um den Vertrieb bei seinen Tätigkeiten sowohl im Innen-, als auch im Außendienst adäquat unterstützen zu können.
  • Die Organisation des Warentransports vom Lager zu den Kunden: Sie beginnt mit dem effizienten Zusammentragen der Bestandteile einer Bestellung, wobei unter Umständen viele Lagermitarbeiter gleichzeitig Waren bewegen und Routen optimiert werden müssen. Durch sie wird die zeitgerechte Bereitstellung zum Versand (unter Berücksichtigung eventueller Zollbestimmungen bei Lieferungen ins Ausland) sichergestellt. Das zeitgerechte Beladen der Transportdienstleister, nach Abfahrtszeiten, Zielorten und auch Spezifikationen der Waren (seien sie groß, zerbrechlich, gefährlich oder verderblich) darf keine Fehler aufweisen.
  • Das Zusammenspiel der verschiedenen Fachabteilungen: Beispielsweise leitet bei einer auftragsbezogenen Bestellung der Vertrieb die Kundenanfrage weiter an den Einkauf, sofern gewünschte Artikel nicht lagernd sind. Dieser fragt dann beim Lieferanten die Verfügbarkeit der Ware an und leitet dessen Antworten zurück an den Vertrieb. Wenn das Angebot dem Kunden zusagt und sich daraus eine Bestellung ergibt, leitet der Einkauf – nach erneut vorangegangener Kommunikation mit dem Vertrieb – den Auftrag weiter an den Lieferanten und informiert die entsprechenden Stellen. Man stelle sich nun die Kommunikationskette vor, wenn der Kunde einen Tag nach einer solchen Bestellung den Auftrag stornieren möchte.

Aus den genannten Punkten ergibt sich eine Vielzahl an komplexen Prozessen und Anforderungen, welche ERP-Systeme im Großhandel abbilden müssen. Dabei geht es häufig nicht nur um das Steuern, Verwalten und Verarbeiten der unternehmensinternen Prozesse, sondern immer häufiger auch um das Austauschen, Verarbeiten und Auswerten von Informationen, die von Geschäftspartnern kommen oder zu diesen gelangen müssen. Um die Informationen vielseitig verwenden und weiterverarbeiten zu können, rückt ein solides Schnittstellenmanagement immer mehr ins Zentrum der Systemanforderungen von Großhändlern. Ein schneller Zugang zu den Informationen an allen benötigten Stellen, ohne dass Qualitätseinbußen entstehen, stellt eine enorme Herausforderung dar. Da er aber das Unternehmen bei der Einhaltung der vielseitigen branchenspezifischen Zeitreglementierungen unterstützt und dadurch auch zum Erhalten der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt, gehört ein ausgereiftes Schnittstellenmanagement zum Pflichtprogramm auf dem Weg zum Erfolg.

Außerdem müssen Systeme im Umfeld des Großhandels ein Höchstmaß an Flexibilität aufweisen, um den schnell wechselnden Anforderungen der Branche gerecht zu werden. Dinge, die heute selbstverständlich sind wie z.B. Webshops, Tracking IDs, intelligente Lagerstätten etc. existierten vor einigen Jahren nur in den Köpfen einiger Weniger. Was die Zukunft bringen wird, kann man nur schwer abschätzen und so ist es unumgänglich, ein System im Einsatz zu haben, welches die Anpassung an neue Trends und Herausforderungen zulässt. Hier wird sich entscheiden, ob der Großhändler durch hohe Anpassungsaufwände am System und die entsprechenden Implementierungszeiten dem Trend hinterherläuft oder in der Lage sein kann, Trends erfolgreich aufzugreifen oder sogar mit zu gestalten. Im Falle einer Systemfehlfunktion oder gar eines Ausfalls kann innerhalb kürzester Zeit ein erheblicher Schaden entstehen, dessen Auswirkungen sich über einen längeren Zeitraum (auch nach Wiederherstellung der vollen Funktionalität) ziehen können. Die systemseitige Zuverlässigkeit und Resistenz gegen Fehlfunktionen ist aus diesem Grund unabdingbar.

Zwei in diesem Sinne besonders interessante Aspekte für den Großhandel sind:
  • PIM (Product Information Management), da die Qualität der (Stamm-)Daten über das gesamte Geschäftsgebaren hinweg fehlerfrei sein muss. Hierzu gehören die korrekte, konsistente und abteilungsneutrale Erfassung von Maßen, Gewichten, Kennnummern sowie sonstiger Produktmerkmale und deren konzernweite Zugänglichkeit. Durch die Vielzahl an Nutzern der Informationen ist hier höchste Genauigkeit notwendig. Die Stammdaten eines Produkts wirken sich auf viele Facetten des Großhandels aus, z.B. auf die Berechnung von Frachtkosten, die Lagerhaltungslogik, das Abdrucken in einem
    Werbekatalog und nicht zuletzt auf die Beratung der Mitarbeiter im Vertrieb und die häufig darauf aufbauende Kaufentscheidung der Kunden. Der in der Informatik beheimatete Ausdruck „garbage in, garbage out“ ließe sich also auch hier wunderbar anwenden.
  • EDI (Electronic Data Interchange), das vertraglich geregelte Austauschen von Daten zwischen Geschäftspartnern auf elektronischem Wege. Als Beispiel ist eine Sendebestätigung per Mail zu nennen, welche die Sendungsverfolgungsnummer einer Bestellung enthält. Die kommerziellen Nutzungswege von EDI erstrecken sich jedoch weit über solche Informationen hinaus. So könnten Lieferanten die Lagerstände ihrer Produkte beim Kunden – dem Großhändler – abrufen und selbst eine Nachbestellung bzw. das Auffüllen des Lagers in die Wege leiten. Eine win-win-Situation, denn der Lieferant muss nicht die Unverfügbarkeit seiner Artikel fürchten und der Großhändler hat einen Teil des Einkaufs outgesourct. Selbstverständlich sollten diese Methoden gemäß festgelegter Standards und vertraglicher Regeln angewendet werden, um eine reibungslose Zusammenarbeit und Arbeitsteilung sicherzustellen.

Die eingesetzten Systeme der Großhändler müssen also wahre Multitalente sein, um den Anforderungen dieser dynamischen und schnelllebigen Branche gerecht zu werden. Die derzeit bei österreichischen Großhandelsunternehmen eingesetzten Systeme reichen dabei von Branchen-übergreifenden Standardlösungen bis hin zu speziellen Branchenlösungen. Nach aktueller Marktstudie der SIS Consulting unter 488 Großhandel-Unternehmen verwenden rund 60% der Unternehmen (n = 279) die nachfolgend aufgeführten Systeme:

Abschließend lässt sich festhalten, dass der Erfolg und die Effizienz im Großhandel durch den gezielten Einsatz unternehmensinterner Systeme gesteigert werden kann, solange diese die branchen-typischen Anforderungen abdecken können. Allerdings heißt Großhandel nicht nur, dass große Mengen an Waren umgeschlagen werden, sondern auch dass Fehler große Auswirkungen haben. Der koordinierte Informationsaustausch und das konsequente Zusammenspiel unter den zahlreichen Geschäftspartnern sind daher – systemunabhängig – unerlässlich.

Dieser Fachartikel wurde im ERP Booklet 2017 veröffentlicht.

ERP Booklet 2017
Herausgeber: SIS Consulting GmbH, Innsbruck
Verlag: ADV Handelsgesellschaft m.b.H., Wien
Taschenbuch, Softcover, 148 x 210 mm
www.erp-booklet.com